Wie aufmerksame Leser meines Blogs sicher schon wahrgenommen haben, behandele ich in letzter
Zeit intensiver das Thema Selbst und wie wir uns vielleicht auch von unserem Selbst entfremden.
Wahrscheinlich kommt das Interesse daher aus meiner eigenen Geschichte, vielleicht aus aktuellen
Entwicklungen und Büchern, oder aber auch aus Ausbildungen und einem Streben nach etwas
anderem. Wie auch immer, jetzt möchte ich einige Ideen, Gedanken und Anregungen bezüglich des
Ganz-werdens mit dir teilen. In der Psychotherapie gilt diese Richtung als Dritte Säule, es gibt eine
Richtung in der Philosophie, auch in der Geschichte wurde eine ganze Epoche nach diesem Ansatz
benannt: Der Humanismus. Der Humanismus beschäftigt sich nach dem Namen her mit dem
Menschen. Und zwar, wie es möglich ist, dass der Mensch ganz werden kann. Ich benutze hier
absichtlich den Ausdruck des Ganz-werdens, statt der Ganzheitlichkeit. Ganzheitlichkeit ist in aller
Munde und auch ein Begriff, der, wie ich finde, zu weit gedehnt wird, schließlich gibt es ja auch
ganzheitliche Hundefrisöre und ganzheitliche Rohrreinigung.
Andere Sichtweisen davor (zum Bespiel die klassische Psychoanalyse: psychischer Apparat) haben
den Menschen als Teile einer Maschine betrachtet. Viele Soziologen, die den Menschen eingebettet
in das System Gesellschaft sehen, sprechen sogar von einer Megamaschine, zu der auch der Mensch
gehört. Aber genau das impliziert wohl die Herausforderungen, vor der viele Menschen stehen: sie
sehen sich als Teile einer Maschine. Teile in einer Maschine arbeiten im gesamten System
spezialisiert und eigenständig, aber doch immer abhängig im Gefüge des maschinellen Prozesses. In
unserer Gesellschaft wird das durch die Arbeits-teilung gekennzeichnet und abgeleitet: Der Mensch
ist für einen Teil zuständig, er erfüllt nur einen Teil der Aufgaben und lebt auch nur einen Teil seines
Lebens, um hier Lewis Mumford, Wissenschaftler und Kritiker, zu erwähnen. Klar, nur einen Teil
seines Lebens leben, weil man nur einen Teil der Aufgabe erfüllt. Und Arbeit macht ein Drittel
unseres Lebens aus. Einen anderen großen Teil unseres Lebens schlafen wir. Also wo bleibt der
Mensch dann mit all seinen wunderbaren Ressourcen, die doch irgendwo in ihm sind?
Auf einem Symposium habe ich im April einen Vortrag darüber gehalten, wie man an seine
„ungehobenen Schätze“ kommt, wie man sie wiederentdecken kann. Ja, ich gehe davon aus, dass
jeder Schätze in sich hat, jeder hat Fähigkeiten und Interessen, Leidenschaften und Motivationen,
aber wie sollen wir die nutzen, wenn wir doch nur einen Teil unseres Lebens leben? Der
humanistische Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch danach strebt, ganz sein zu wollen. Und
wahrscheinlich ist das ein Wunsch, der heute aktueller denn je ist. Wo wir anfangs mehr sein wollten,
als wir jetzt sind, wollen wir sein, was wir sind. Und auch das kann schon eine wichtige Aufgabe sein.
Der indische Philosoph Osho sagte dazu: „Sei! Versuche nicht zu werden.“ Aber möglicherweise darf
man auch erst mal „Werden“ um zu „Sein“. Doch dazu möchte ich an dieser Stelle nicht tiefer
eingehen. Vielleicht können einige Anregungen aus der humanistischen Strömung hilfreich sein, um
wieder auf den Weg des Ganz-werdens zu kommen.
1. In Frage stellen
Es kann helfen, sich und Systeme immer mal wieder in Frage zu stellen. Wer es schafft, auch
sich, sein Selbst hin und wieder in Frage zu stellen, schafft möglicherweise dadurch
Möglichkeiten, auf den Weg des Selbstwerdens zurückzufinden. Ist wirklich alles gegeben, so
wie es ist? Oder scheint es nur gegeben? Vieles, was man als gegeben betrachtet, kann
Sicherheit geben. Aber vieles, was man hinterfragen oder in Frage stellen kann, kann
Chancen zur Entfaltung bieten. Kleines Beispiel: Angenommen jemand hat Angst, Vorträge zu
halten und die innere Einstellung, dass das als festgelegt existiert. Wie viel Entwicklung ist da
möglich? Wie viel Entwicklung ist bei jemandem möglich, der diesen Zustand in Frage stellt?
2. Authentizität
An anderer Stelle habe ich schon darauf hingewiesen, dass unser Gehirn eine
Grundeinstellung besitzt: Authentizität oder Echtheit. Viele bewundern möglicherweise
Kinder, wie echt oder authentisch sie sind, dass sie frei heraus reden, was sie denken oder
fühlen. Und dann gibt es doch eine zweite Grundeinstellung: Wir nehmen Un-echtheit sofort
wahr. Das kommt dann zum Ausdruck, wenn wir ein komisches Bauchgefühl einem anderen
Menschen gegenüber haben. So wie wir gelernt haben, weniger authentisch und echt zu sein
und sich darum ein System möglicherweise gebildet hat, so können wir auch immer wieder
lernen, echt zu sein. Und vielleicht ändert sich ja dann auch das System. Mit Echtheit ist
gemeint, dass wir wirklich echt sind, dass wir keine Maske in der Kommunikation mit
anderen tragen. Schaffen wir es, echter zu sein, nehmen wir uns und unseren
Gesprächspartner viel tiefer wahr, die Qualität der Beziehung wird auf eine andere Ebene
gestellt. Beispiel kann sein, dass die Inhalte einer Botschaft mit der Mimik, Gestik und dem
Tonfall übereinstimmen.
3. Selbst-wahrnehmung
Sich selbst wahrzunehmen kann auch eine hilfreiche Anregung sein. Hiermit meine ich,
wahrzunehmen, was man kann, was man will, was man ist. Viele wissen nicht, was sie
können, was sie gutes geleistet haben. Das nehme ich oft in Seminaren oder auch in der
Arbeit mit meinen Klienten wahr. Viele können sich erst Fähigkeiten zuschreiben, wenn ich
sie aus der Perspektive einer anderen Person beschreiben lasse. Ja und leider werden wir
einfach von außen zu viel bewertet, dass wir uns selbst kaum Wert zuschreiben. Aber wer
kann sich denn am besten Wert zuschreiben? Doch nur man selbst. Ansonsten macht man
seinen Wert von der Gunst anderer abhängig. Und da jeder Mensch, dem wir begegnen
natürlich einen anderen Bewertungsmaßstab ansetzt, kann es wenig sinnvoll sein, die
verschiedenen Maßstäbe zu vereinheitlichen. Also stellen wir in Frage…
4. Akzeptanz
Auch Akzeptanz kann bei der Ganzwerdung helfen. Sich selbst zu akzeptieren bedeutet, nicht
gegen sich zu kämpfen, sondern Ruhe in seine persönliche Entwicklung hinein zu bringen.
Und letztlich akzeptiert man sich ja eher weniger, weil auch hier vielleicht wieder der
Vergleich mit anderen und die Bewertung durch andere zu sehr im Vordergrund steht. „Ich
bin ich – und du bist du“ sagte Fritz Perls, Gestalttherapeut, dazu. Außerdem tritt scheinbar
ein ganz interessanter Effekt auf, je mehr man gegen sich selbst und die Situation kämpft, in
der man steckt: Das, was man scheinbar nicht will, wird stärker, bekommt mehr
Aufmerksamkeit, gewinnt an Größe.
Diese vier Aspekte möchte ich hier als Anregungen geben, Erfahrungen mit dir teilen, was mir selbst
schon oft geholfen hat und sich teilweise zu einer Lebenseinstellung verfestigt hat. Ganz-werden ist
ein ständiger Prozess, und er hört wohl nie auf. Es kann ein ständiger Weg sein, auf dem man sich
befindet, wenn man bereit ist, ihn gehen zu wollen. Natürlich macht es auch durchaus Sinn, ständig
zu sitzen, aber dann kann man sich fragen, wie viel man vom Leben sieht. Doch auf schönen Wegen
gibt es auch Bänke, die gerne zum Sitzen einladen. Diese Bänke stehen oft an Plätzen, an denen die
Landschaft am schönsten ist. Beim Abschweifen des Blicks in die Ferne sortieren sich möglicherweise
die Erfahrungen, die man auf dem Weg sammeln konnte, am besten. Und so kann Gehen und Ruhen
sinnvoll sein…